Stephanie Kratz

Über Dinge und RÄume

About Things and Rooms, 2001, mixed media, Sandberg 2, Maria Chapel in Hoorn,
the Netherlands

I take all my personal belongings found in my living room in Amsterdam to the exhibition space in Hoorn.
According to their order in my room I sew all items together, for instance everything that is found in a desk drawer. I do the same with my books, the contents of my paper basket, my clothes, shoes, bills, letters and so forth. Islands of objects arise. These islands lie on the ground or hang down from the supports of the ceiling. The living room itself is represented by a scale model of the room and by the actual carpet. For the duration of the exibition I live in the exhibition space.


„Das richtige System, sich mit Gegenständen zu umgeben”
von Daniiel Charms aus „Traktat mehr oder weniger nach einem Kospekt von Emerson”

Nehmen wir an, irgendein splitternackter Wohnungsbevollmächtigter hat beschlossen, sich mit Gegenständen zu umgeben. Beginnt er mit einem Stuhl, so wird er zu dem Stuhl einen Tisch brauchen, zu dem Tisch eine Lampe, dann ein Bett, eine Decke, ein Laken, eine Kommode, Wäsche , Kleider, einen Kleiderschrank, dann ein Zimmer, wo man das alIes unterbringen kann, und so weiter. Bei jedem Punkt dieses Systems kann ein kleines Nebensystem, ein Zweig, entstehen: Auf ein rundes Tischlein möchte man ein Decklein legen, und auf das DeckIein eine Blumenvase und in die Blumenvase Blumen stellen. Solch ein System, sich mit Gegenständen zu umgeben, wo ein Gegenstand in den anderen greift, ist falsch, denn eine BIlumenvase, in der keine Blumen sind ist sinnlos, doch nimmt man die Blumenvase weg, so wird das runde Tischchen sinnlos. Schön, man kann auf das Tischchen eine Wasserkaraffe stellen, doch wenn man in die Wasserkaraffe kein Wasser tut, gelten die gleichen Schlussfolgerungen wie bei der Blumenvase. Die Beseitigung eines einzigen  Gegenstandes  zerstört  das  ganze  System.  Würde  der  nackte Wohnungsbevollmächtigte sich aber Ringe anstecken, Armbänder überstreifen und Ketten umhängen, und sich mit Kugeln und Zelluloidechsen umgeben, so würde der Verlust von einem oder siebenundzwanzig Gegenständen am Wesen der Sache nichts ändern. Dieses System, sich mit Gegenständen zu umgeben, ist richtig.

Lungenbläschen und Fußballfelder

Eine Geschichte, die mir als Kind erzählt wurde, lässt mich nicht mehr los: Legt man die Oberflächen der einzelnen LungenbIäschen einer menschlichen Lunge aneinander, ergibt dies die Fläche eines Fussballfeldes, - ein schönes Bild, und eine erschreckende, absurde Vorstellung.

Dies ist der Versuch auf naive Art hinter das Geheimnis eines Dinges, in diesem Fall der Lunge, zu kommen. Doch durch den chirugischen Eingriff bleibt der Wunsch unerfüllt, stärker noch, die Lebensfunktion, das Sein des Dinges, wird zerstöhrt. Die Ausführung ist in diesem Fall tödlich. Mir vorzustellen alle Gegenstände meines materieIlen Besitzes auf gleiche Weise zu behandeIn fasziniert mich. Welche Fläche mag mein Habe ausfüllen?

Anders als bei der Lungengeschichte, bei der die Lunge in ihre Einzelteile zerlegt wird, ist es mir wichtig den Gegenständen ihr Sein zu lassen. Das heisst, ein Buch wird nicht in seine Einzelteile zerlegt, sondern bleibt erkennbar ein Buch, mit all seinen Seiten und dem Umschlag drumherum. Indem ich die Gegenstände aneinandernähe, beraube ich sie ihrer Funktion und mache sie unbrauchbar. Sie werden auf ihr Sein reduziert und distanzieren sich von ihren Schöpfern. Die Gegenstände werden aus ihrem Kontext gerückt. Und dadurch stellen sich Fragen wie zum Beispiel: Was ist ein Buch das nicht mehr gelesen werden kann? Ist es noch ein Buch?

Die Lungenbläschen aneinanderzulegen ist ein naiver Akt, naiv in dem Sinne, dass er durch keine ästhetische Überlegung motiviert ist; das gewachsene System der Lunge wird als Ordnung beibehalten. Eine gewachsene Ordnung finde ich auch bei den Dingen meines Zimmers, diese Ordnung offenzulegen ist mein Anliegen. Das heisst beim Verbinden der Gegenstände miteinander habe ich Form-, Farb-, und sonstige ästhetische Gesichtspunkte ausgeschlossen. Ich bediene mich der vorhandenen Systeme; sie entstehen meist stillschweigend, oft unbeachtet und unbedacht in alltäglichen, automatischen Handlungen. Die Systeme der verschiedenen Gegenstandskategorien entstehen auf unterschiedliche Weise. Die Kriterien, einen Kleiderschrank zu ordnen sind andere, als einen Papierkorb zu füllen.

Die Schreibtischschublade, oder Dinge im Verborgenen

Ziehe ich die Schublade meines Schreibtisches auf ohne etwas Bestimmtes zu suchen, will ich sie am liebsten gleich wieder schließen. Sie beinhaltet ein Sammelsurium an wichtigen und unwichtigen, nützlichen, scheinbar nützlichen und unnützlichen, vergessenen und am liebsten zu vergessenen Gegenständen. Geliebte Dinge sind darunter und Dinge, bei denen ich mir nicht darüber klar werden kann, ob ich sie nun eigentlich brauche oder liebe oder mag oder doch am besten wegschmeißen soll.

Zum Beispiel die musikmachende Plastikrose, die ich von einem guten Freund bekommen habe, verschwand in dieser Schublade. Sie verschwand darin um mich nicht permanent mit ihrer Unnützlichkeit und Hässlichkeit konfrontiert zu sehen, und ausserdem mit dem schlechten Gewissen über meine Vergesslichkeit, wer sie mir nun eigentlich geschenkt hat. Beim Anblick dieser Rose habe ich das unbestimmte Gefühl, sie von jemanden bekommen zu haben, den ich sehr mag, aber nicht mehr zu wissen von wem.

Um das gewachsene System der Schreibtischschublade ans Tageslicht zu bringen, nutze ich den vorhandenen Zustand. Ich bediene mich der schon vorhandenen Ordnung. Ich nehme den ersten zuoberst vorne liegenden Gegenstand und nähe den darauffolgenden daran, und so weiter. Auf unbeschriebene Postkarten folgen die graublauen Briefumschläge der Postbank, und dazwischen liegt jene oben erwähnte Rose. So enteht eine Fläche ähnlich einer Insel. Die Schublade gibt schonungslos ihren Inhalt preis. Ich gebrauche die Dinge nicht als Material um etwas Neues zu kreieren. Die horizontalen und vertikalen Skulpturen (Inseln), die durch die Handlung des Verbindens mittels Nadel und Fadens sichtbar werden, bestanden schon im Verborgenen meiner privaten Behausung. Es sind Bestandsaufnahmen zeitlicher Abfolgen.

Der Papierkorb, oder das Entstehen von Systemen

Der Papierkorb ist ein gutes Beispiel für eine zeitlich begrenzte Periode. Ist er voll, verschwindet der Inhalt entgültig aus meinem Leben. Der Behälter "Papierkorb” ist eine Zwischenstation, ein noch eben unbeachtetes Festlegen meines Umgangs mit bestimmten Dingen. Es ist auch ein Stück Dokumentation meines täglichen Lebens.

Die Dinge zusammenzunähen birgt den hilflosen Versuch in sich, die Zeit anhalten zu wollen und zu konservieren. Zeit zeigt sich uns durch Bewegung und Veränderung der Dinge. Den Versuch bezeichne ich insofern als hilflos, da ich, kaum begonnen mit der langwierigen Tätigkeit des Zusammennähens, schon wieder neue Reklameflyers, Kassenzettel, Einwickelpapier und Änhnliches in den Händen halte. Und somit erneut vor der Entscheidung stehe: Wegschmeissen oder doch ab damit in die Schublade.

Die Anhäufung von Dingen liegt in unserem Alltag oft ausserhab unseres Einflussbereiches. Der sich permanent füllende Papierkorb erinnert mich an das Märchen von dem süßen Brei: Auf den Wunsch eines kleinen Mädchens hin, ihr möge das Essen niemals ausgehen, produziert ihr Kochtopf fortwärend süßen Griesbrei. Was zur Folge hat, dass irgendwann die ganze Stadt im Griesbrei versinkt. Das System Papierkorb ist ein schnellebiges System. Es ist innerhalb seiner Ordnung durch keine Entscheidungen strukturiert. Allein die Handlung, Gegenständen diesem System zuzuordnen, unterliegt einer massgeblichen Entscheidung: Wegschmeissen oder Behalten.

Anders beim Kleiderschrank: Welcher Gegenstand dieser Kategorie zuzuordnen ist bestimmt die Funktion des Gegenstandes und liegt somit gewöhnlicherweise ausserhalb meines Entscheidungsbereiches. Doch die Anordnung der einzelnen Gegenstände stellt mich vor viel mehr Entscheidungen als die Anordnung in einem Papierkorb. Das System wird ebenso wie beim Papierkorb durch seinen Behälter strukturiert, beim Schrank durch seine Fächer, Schubladen und so weiter. Die Anordnung der Kleider ist stark praktischer Natur; Die Unterhosen sind einfach erreichbar, T-Shirts gefaltet und zum Stapel gelegt, und die schweren, selten genutzten Wanderstiefel stehen in der hinteren Ecke.

Aber auch ästhetische Beweggründe spielen beim Einräumen meiner Kleider eine Rolle und stellen mich vor Entscheidungsprobleme: Zum Beispiel das schwarze lange Samtkleid mit den blumenbedruckten Puffärmeln sehe ich gerne wen ich den Schrank öffne - ein Stück Befriedigung meiner unerfüllten Mädchensehnsucht, eine Prinzessin zu sein. Jedoch ist das Kleid so lang, dass es auf dem Boden schleift wenn ich es auf die Kleiderstange hänge. Und somit gebe ich der kleiderschonenden Erwägung nach, falte es zusammen und ordne es im Fach ein. Doch die scheußliche abgenutzte Regenjacke muss hängen, weil ich sie so oft brauche. So entstehen Systeme.

Die Bücherinseln, oder die Veränderung der Dinge

Bei dem Ordnen der Bücher in mein Bücherregal ertappe ich mich dabei, mich im Entscheidungswirrwarr zu verlieren. Es sind die kleinen Neurosen der Alltäglichkeit, die dann zu Tage treten. Der Bücherschrank ist ein Stück Öffnung des privaten Raumes. Der lnhalt des Papierkorbs interessiert normalerweise keinen; der Kleiderschrank hat eine Tür und beinhaltet wesentlich mehr Intimität als das Bücherregal. Der Inhalt des Bücherregals erzählt über meine Bildung und meine Interressen, das heisst, er definiert mich in den Augen der Anderen und zu mir selbst. Haben und Sein spielt hier eine Rolle.

Ein Bücherregal mit Büchern ist ein Gegenstand, der das Aussehen des Zimmers bestimmt. Ich bin ein ästhetisch geprägter Mensch und komme bei der Ordnung meiner Bücher in Konflikte: Denn nach Themenbereichen muss man Bücher ordnen, damit man sie nachher besser findet, schliesslich bestimmt der Inhalt das Buch. Jedoch möchte ich, dass mein Bücherregal gut aussieht: Also nehme ich doch eine farbliche Abstimmung der Bücher zueinander vor, und versuche sie nach Grössen zu ordnen, was der Themenzuordung teilweise zuwider läuft. Und so weiter, und so weiter.

Bücher besitzen für mich etwas Heiliges, sie beinhalten die Gedanken eines Anderen und eröffnen mir ein Stück seiner Welt. Sie transportieren Bilder. Ich bin aufgewachsen mit der Idee, dass man Bücher nicht wegschmeisst. Was mein Verhältniss gerade wegen meiner Liebe zu Büchern zwiespältig macht:Bücher können fordern: „Lies mich“, sagen sie,„denn dazu bin ich da, auch wenn ich dir zu schwierig bin oder dich langweile, wozu hast du mich denn sonst in deinem Besitz? Wegen dem Haben und Sein etwa?“

Mit der Nadel in die Bücher zu stechen und sie bleibend zu verletzen, hat mir von allen Gegenständen am meisten Schwierigkeiten bereitet, die Stiche taten mir beinah selbst weh. Denn Bücher siedeln sich, wie schon gesagt, in der Welt zwischen Dingen und Wesen an. Indem ich sie zusammenähe enthebe ich sie ihrer Funktion. Ihre fordernden Stimmen verstummen, denn ihr Inhalt ist unzugänglich geworden. Es entsteht eine Loskoppelung zwischen ihnen und mir, eine Eigenständigkeit auf beiden Seiten. Dies bietet mir den Raum für eine andere Sicht auf die Dinge. Es ist eine Entdeckungsreise der Assoziationen und Erinnerungen. Der langwierige Prozess des Nähens, ein sich fortwährend wiederholender Bewegungsablauf der Hände, fördet das Schweifen der Gedanken. Die Bücher mit dem Umschlag mir zugewand erzählen mir andere Geschichten.

Ich lese den Titel auf dunkelrotem Untergrund und stelle fest, dass ich mich an den Inhalt kaum noch erinnern kann. Die abgenutzten Kanten des Buches weisen auf meinen langen Besitz hin. Es ist ein altes Schulbuch das ich von meinem Onkel geschenkt bekommen habe und ich erinnere mich auch noch genau wann und wo. Auch meine immer etwas angespannte Beziehung zu diesem Onkel kommt mir in den Sinn. Die d.t.v. Lexikon Brockhausserie besteht aus zwanzig Bänden, also viele Stiche, viele Knoten und viel Zeit. Sie versetzt mich gedanklich wieder an den Schreibtisch in München, wo ich aufgewachsen bin. Ich sehe mich sitzen an der dunkelgrünen Tischplatte mit dem tellergrossen Brandfleck in der Mitte, und Löcher in die Luft starren, währed ich meine Schulaufgaben zu erledigen habe. Bücher von verflossenen Lieben, von Freundschaften, vergessene Bücher, Gelegenheits- und Verlegenheitsgeschenke passieren meine Hände und erzählen ihre Geschichten.

Die Veränderung der Dinge vollzieht sich bei den unterschiedlichen Gegenstandskategorien nicht mit gleicher Intensität. Die Fotografien zum Beispiel verändern sich kaum. Dies liegt in ihrer ursprünglichen Funktion begründet. Sie sind dazu gemacht Erinnerungen festzuhalten und Geschichten zu erzählen. Ihre Präsentationsform ändert nichts an ihrer Aufgabe. Ob ich sie in einem Album betrachte, oder aneinandergenäht zu einer Fläche, tut dieser keinen Abbruch. Wohl vermindert sich bei der Fläche die Intensität des einzelnen. Die einzelne Fotografie geht Beziehungen mit den Umiegenden ein. Die visuelle Informationsflut beeinträchtigt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das einzelne Foto, die Fotos werden beiläufiger.

Dieser Vorgang findet auch bei den anderen Dingkategorien statt, das Einzelne verliert sich in der Masse. Die Inseln sind ein Konglomerat aus sinnlosen Einzelteilen geworden. Ähnlich wie bei den Büchern treten beim Zusammennähen der Kleidungsstücke Assoziationen und Erinnerungen in den Vordergrund. Ihrer Funktion als zweite Haut enthoben, verändern sie ihr Sein. Sie werden zu Farbflächen, ihre materielle Beschaffenheit, nun ohne Sinn (die dicke Wolle des Pullovers wärmt nicht mehr), wird zum ästhetischen Erlebnis. Die Kleidungsstücke hängen zusammengenäht zu Flächen von den Deckenverstrebungen der Mariakapelle herab und erinnern an riesige Tierfelle die zum Gerben aufgehängt sind.

Der Bademantel, oder Die Befreiung von den Dingen

Ich genieße es mich der Funktion der Dinge zu entledigen, ohne mich ihrer entledigen zu müssen. Es gibt mir Freiheit. Ich löse mich von der Verantwortung gegenüber Dingen. Ich entledige mich der Verantwortung des Besitzenden. Die Schuhe müssen (und können) nicht mehr geputzt werden. Die weißen Salzränder auf dem dunklen Leder erzählen von meinem letzten Spaziergang am Meer und gehören nun dem Schuh, der sich nahtvoll einfügt in die Schuhinsel.

Morgens aufzuwachen, meinen Blick über die hängenden Kleiderfelle streifen zu lassen und in den mir noch verbliebenen Arbeitsanzug zu schlüpfen enthebt mich der Entscheidung was ich heute anziehen soll. Diese Frage ist eine Konklusion aus einer Anzahl vorhergehenden Fragen und Überlegungen: „Wie ist das Wetter heute?“ „Was habe ich vor?“ „Wie fühle ich mich heute?“ „Ist das was ich tragen will den Umständen angemessen?“ Auch der Ärger über Löcher, FIecken, ungebügelte Hosen und kaputte Reissverschlüsse entfällt. An diesem Punkt wird deutlich, dass bei der Entfunktionalisierung der Dinge eine Wechselwirkung stattfindet. Nicht nur die Dinge erhalten eine Eigenständigkeit, sondern auch ich. Die Möglichkeit mich über die Dinge zu definieren entfällt.

Dies ist eine rein persönliche Erfahrung. Denn der Betrachter wiederum definiert mich über die Dinge, die er sieht. Die Information der zur Schau gestellten Dinge meines Besitzes gebraucht er, um sich ein Bild von meiner Person zu machen. Der EntfunktionaIisierung der Dinge und damit der Befreiung von diesen, folgt unweigerlich eine Veränderung meiner Lebensstruktur.

Die weißen A-4 Blätter können nicht mehr beschrieben werden, denn die Stifte sind eingenäht. Die Rechnungen können nicht mehr in die graublauen Umschläge der Postbank gesteckt und weggeschickt werden. Die Schuhe können nicht mehr getragen, die Bücher nicht mehr gelesen, und die Cds nicht mehr gespielt werden. Ich entledige mich den Anforderungen die der Alltag an mich stellt. Aber nicht nur die Anforderungen werden beschnitten, sondern auch meine Gewohnheiten und Bedürfnisse, die ich Mittels der Dinge die ich besitze zu befriedigen pflege.

Die Dinge meiner nächsten Umgebung zu transformieren und unbrauchbar zu machen, plus ihre gewohnte Umgebung, mein Zimmer, zu verlassen, kommt einer Enwurzelung gleich. Es wird mir deutlich wie stark meine Identität an meine Umgebung gebunden ist. Auch ich bin ein Gewohnheitsmensch. Auch wenn ich schon von Kindheit an es liebe in anderer Umgebung zu übernachten, um zu erleben wie es sich da wohnt, bietet meine gewohnte Umgebung und mein Besitz mir die notwendige Basis und auch Rückzugsmöglichkeit. Entwurzelung verstärkt die Ambivalenz zwischen Festhalten und Loslassen. KIeine Gewohnheiten werden zum Anker. Am ersten Morgen in der Marienkapelle vermisste ich meinen weissen Bademantel, in dem ich gewohnheitsgemäß frühstücke. Es ist mir zum Bedürfnis geworden, so meinen Tag zu beginnen.

Der Fleck auf der Unterhose, oder de Öffnung des Privaten

Das Haus kann als symbolische Äquivalenz des menschlichen Körpers gesehen werden. Die Gegenstände und Gegenstandskategorien sind dann vergleichbar mit den Organen. Die Dinge in ihrer Anordnung, in ihrer Beziehung zueinander und zum Raum, kommt einem funktionellen Organismus gleich. Die Behausung bietet seinen Bewohnern den Rahmen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Es sind sowohl die primären menschlichen Grundbedürfnisse als auch Sekundärbedüfnisse wie die Suche nach Geborgenheit, Stabilität und Schutz. Auch bietet die Behausung eine Projektionsfläche für Sehnsüchte. Sie stellt einen abgeschlossenen Raum dar, dessen Öffnung nach Aussen ich selbst bestimme.

Durch meine Entscheidung, die gewohnte Umgebung meines Zimmers zu verlassen und alle dort angesiedelten Gegenstände nach Hoorn in den Ausstellunngsraum zu bringen, entnehme ich mir diese Selbstbestimmung. Die Dinge des privaten Raumes werden zwangsläufig öffentlich gemacht. Die Gegenstände verlieren die Beziehung zu ihrem ursprüngIichen Raum. Dieser Raum ist nur noch als Fragment in Form des Teppichs vorhanden und rekonstruierbar an Hand der Maquette.

Nicht nur durch die Entfunktionalisierung der Gegenstände, sondern auch durch den Verlust ihrer ursprünglichen Umgebung und ihrer folglichen Veröffentlichung können sie meinen Bedürfnissen nicht mehr dienen. Der Organismus funktioniert nicht mehr. Die Öffnung des Privaten geht immer mit Selbstentblößung einher. Dies stellt für mich eine Herausforderung dar. Nämlich der Selbstentblößung, die sich dadurch bedingt, dass ich meinen persönlichen und intimen Besitz zeige, keine die Arbeit bestimmende Rolle zukommen zu lassen. Sondern dies als unausweichliche Erscheinung dieser Art von Arbeit zu behandeln und in ihren Dienst zu stellen.

Durch Selbstentblößung wird Neugierde geweckt. Meinen Besitz der Öffentlichkeit preiszugeben, und damit ein Stück Definition meiner selbst, ruft bei dem Besucher Neugierde hervor. Diese Neugierde benutze ich als Katalysator. Sie dient als Zugang zu der Arbeit. Ich selbst jedoch überlasse den Dingen und dem Raum die Führung, das heisst ich mache schon Vorhandenes sichtbar. Ich fungiere als Werkzeug, um vorhandene Systeme offenzulegen, wodurch eine andere Sicht auf die Dinge, auf ihre Beziehung zueinander und zum Raum ermöglicht wird. Ich greife nicht ein, das heisst, meine eigene Erfahrungen wärend der Beschäftigung mit den Dingen und die daraus hevorgegangene veränderte Beziehung zu ihnen mache ich in der Arbeit nicht sichtbar. Dies ist wichtig, da ich ansonsten dem Betrachter nicht den Raum zur Reflextion über sein Verhältnis zu Dingen bieten würde.

Ich halte mein Verhältnis zu Dingen für nicht besonders, sondern für ziehmlich allgemein. Ich zeige dem Betrachter eins von vielen gewachsenen Systemen. Das Persönliche wird Allgemein und wieder für jeden persönlich. Jeder von uns besitzt Dinge, hebt sie auf, umgibt sich mit ihnen, schmeisst sie weg und weiss sich manchmal keinen Rat mit ihnen. Jeder von uns wohnt. Der Betrachter erkennt sich wieder im Umgang mit Dingen und in seinem Verhältnis zu ihnen. Meinen persönlichen Besitz gebrauchend, versuche ich unser Verhältnis zu Gegenständen und Raum in Frage zu stellen und eine andere Sicht zu ermöglichen. Durch konsequent alle losen Gegenstände meines Zimmers zu zeigen werde ich mit meinem Selbstbild konfrontiert. Verstecken ist ausgeschossen. Der private Raum bietet uns die Möglichkeit Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Bedürfnisse vor Anderen verborgen zu halten. Es ist ein intimer Raum. Diese Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Bedürfnisse stehen oft in Verbindung mit Dingen.

Bekomme ich Besuch in meinem Zimmer, verschwinden die Kondome auf meinem Nachttischchen in der obersten Schublade des Metallschränkchens, volle Aschenbecher werden geleert und die Unordnung im Zimmer beseitigt, durch unliebsame Gegenstände kurzerhand unters Bett zu stopfen. Simpel gesagt: Ein paar Dinge sind mir einfach peinlich der Öffentichkeit preis zu geben. Zum Beispiel das Buch „Mein Kampf“ von Adolf Hitler, oder die Unterhose mit dem nicht mehr auszuwaschenden Menstruationsfleck.

Der einsame Teppich, oder die Verbindung zwischen Dingen und Räumen

Eine bemerkenswerte Eigenschaft von Gegenständen ist ihr scheinbar veränderliches Volumen in Räumen. Diese Eigenschaft ist bei folgendem Vorgang zu beobachten: Die Gegenstände in einer eingerichteten Wohnung fügen sich dem Raum. Bei einem Umzug jedoch passiert etwas Seltsames: Die Bücher, nun in Kartons verpackt, und die Säcke mit Kleidungsstücken, nun dem Schrank entrissen, sprengen nahezu den Rahmen des Raumes. Es scheint unvorstellbar, dass aIIe diese Gegenstände in dem Raum auf solche Weise Platz finden können, dass sie dem Wohnenden dienen und ihn nicht unter sich begraben.

Ein weiteres Phänomen: Je größer der Raum und je größer die Abstände zwischen den Dingen, desto scheinbar kleiner ihr Gesammtvolumen, je kleiner die Abstände, desto grösser das Volumen. Breite ich den Teppich meines dreizehn Quadratmeter grossen Zimmers in der Mitte der hundertneunundfünfzig Quadratmeter grossen Mariakapelle aus, verbleiben einhundertsechsundvierzig Quadratmeter Fläche rundherum. Stelle ich alle meine Möbel wieder auf ihren ursprünglichen Platz, wird der Raum innerhalb der Begrenzung des Teppichs so klein und die Möbel so gross, dass es unmöglich erscheint, alle Dinge, die ehemals in dem Zimmer verweilten, darin unterzubringen, geschweige den selbst darin noch zu wohnen. Es ist wunderlich. Der Teppich ist ein Fragment. Er gibt den Grundriss meines Zimmers in Orginalgröße wieder, eine der sechs Seiten des Quaders, in dem ich wohne.

Er ist seinem Körper entrissen; die sechs Seiten um ihn herum sind andere geworden; er passt nicht mehr. Seine Form und die Abdrücke und Flecken auf dem Textiel erzählen von seinen ehemaligen Bewohnern und geben eine vage Vorstellung von dem abwesenden Raum. Der Teppich in gewohnter Position auf dem Boden Iiegend bleibt ein Teppich. Er fügt sich nicht ein in die ihn umgebende Insellandschaft der Dinge seines ehemaligen Raumes. Er behält seine Aufgabe als Teppich, kann dieser jedoch nicht mehr raumfüllend nachkommen, und wirkt deplaziert und isoliert.

Auch das Bett, der Sessel und der Schreibtisch mit Stuhl behalten ihre Funktion, und werden von mir weiterhin genutzt. Da sie jedoch in ihrer Funktion weitgehend unabhängig vom Raum sind, fügen sie sich ihrer neuen Umgebung, machen jedoch keinen Teil der entstandenen Dinglandschaft aus und bleiben Bett, Stuhl und Tisch. Die übrigen Dinge, zusammengenäht, funktionslos, bilden Inseln, gleich einer Landschaft im Raum. Höhen und Tiefen der Inseln werden durch die Stofflichkeit der Gegenstände bedingt, durch Faltenwürfe, ihr Volumen, durch Knicke und Risse. Die Abstände zwischen den Gegenstandsflächen werden zu bewandelbaren Pfaden. Die Landschaft aus venikalen und horizontaten Skulpturen ist eine gewachsene Struktur, die sich aus dem Prozess des Zusammennähens enwickelt hat.

Der Raum der Mariakapelle ist der Träger dieser Landschaft; das heißt: Die vorhandene Struktur des Raumes bleibt unversehrt. Ich nutze was der Raum mir zu bieten hat, den Boden zum Legen und die Deckenverstrebungen zum Hängen. Durch meine Dinge zu spazieren lässt mich Schönheit entdecken. Es ist ein Spiel von Farben und Formen, Abständen und Strukturen, das ich nicht beabsichtigt habe und sich mir nun offenbaren. Ich werde aufmerksam auf ansonsten Unbeachtetes. Zum Beispiel auf die Sonnenstreifen, die über die Dinglandschaft wandern und sie verändern. - Nutzlos und Schön.

Epilog

Alle Dinge, die ich besitze habe ich einzeln in den Händen gehalten, sie befühlt und auf andere Weise betrachtet. Ich habe sie mit der Sorgfalt eines Chirurgen behandelt. Die Fäden sind inzwischen gezogen, doch die Stichverletzungen geblieben, und zeichnen nun die Dinge aus, die ich bis zu der Ausstellung in der Mariakapelle schon besaß. Es ist als ob wir, die Dinge und ich, eine Erinnerung an ein gemeinsames Erlebniss teilen. Dies bindet mich mehr an sie. Sie sind mir lieber geworden, zumindest die, die es überlebt haben. Teilt man Menschen in Wegschmeisser und SammIer ein, dann gehöre ich eher zu den Wegschmeißern. Auch wenn dies oft von Gewissensbissen begleitet ist, und damit die Ausführung der Tat manchmal verhindert. Und somit füllt sich meine Schublade doch wieder mit musikmachenden roten Plastikrosen und Ähnlichem.

Nach dem Abbruch der Ausstellung, habe ich die Dinge wieder aus ihren Inseln befreit. Aber nur die Dinge von denen ich meinte, dass ich sie wirklich mag und brauche. Bei den Anderen kostete mich die Befreiung zu viel Mühe, und ich habe sie weg geschmissen. Übriggeblieben ist nicht viel. Doch wächst es seitdem wieder ständig und ich stehe immernoch vor meinem BücherregaI und ordne um nach Farben, Grössen und Themen.